Monatsbrief August


i
Werte Leserin, werter Leser

Es waren einst zwei Bergsteiger. Beide kletterten am selben Tag auf denselben Berg. Zurückgekehrt berichtete der erste: «Was ich gesehen habe? Oh, was man halt so sieht auf einem Berg: Ein paar Bäume, Wasser, Felsen und ab und zu eine Kuh – sonst nichts. Aber ich war ganz oben auf der Spitze.» und er gähnt.

Der Zweite sagte: Was ich gesehen habe, das werde ich nie mehr vergessen: Markante Felsen, bunte Wiesen und klares und kühles Wasser, die wärmende Sonne und das unendliche Blau des Himmels. Alles voller Wunder.» Und während er so spricht, sieht er aus, als ob grosse Wunder immer noch aus seinem Gesicht und seinem Herzen leuchteten.1

Zwei Menschen zwei Sichtweisen. Der erste Bergsteiger hat ganz den Gipfel, das Ziel im Kopf.
Er will da rauf. Was unterwegs zu sehen ist, ist ihm egal. Hauptsache oben. Wahrscheinlich hat er schon den nächsten Gipfel im Visier. Der zweite Bergsteiger staunt noch jetzt über die Grösse und Herrlichkeit der Berge. Was er gesehen hat, bewegt ihn noch während er erzählt.

Wir können die Welt auf verschiedene Weisen betrachten. Wie der erste Bergsteiger können wir zweck- oder zielorientiert denken. Alles dient dann einem Zweck, einem Ziel.

Wie der zweite Bergsteiger können wir auch alles, was wir sehen als Wunder betrachten, als Geschenk. Sicher gibt es noch weitere Möglichkeiten die Welt zu betrachten. Jede Sichtweise hat ihre Berechtigung, hat Stärken und Schwächen. Wer auf ein Ziel hin arbeitet tut gut daran, das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Schön, wenn jemand diese Fähigkeit mitbringt. Dennoch wünsche ich uns, dass wir wieder lernen, alles, was wir sehen, staunend und voller Ehrfurcht zu betrachten. Dass wir lernen wieder innezuhalten. Dass wir ab und zu das Ziel, Ziel sein lassen und staunend die Welt betrachten. Das Leben um uns herum, die Strukturen, die Ordnung, die Farben alles ist ein Wunder, ein Geschenk. Wer die Welt so sieht, kann nicht anders als immer wieder vor Dankbarkeit innezuhalten und dem die Ehre zugeben, der all das erschaffen hat und uns anvertraut hat.

Im Namen des Kirchgemeinderates und der Mitarbeitenden der Kirche Seedorf wünsche ich Ihnen Gottes reichen Segen. Pfarrer Michael Siegrist

1 Nach Zweierlei Sichten, in: Willi Hoffsümmer (Hg.): Kurzgeschichten 10, 2014, München, S. 89.