Mut zum Besuchen



«Ich komme dich bald einmal besuchen, ganz bestimmt!» Wenn im Bekanntenkreis jemand krank wird, verspricht man das gerne. Leider ist es aber ein Versprechen, das oft nicht eingehalten wird. Meistens ohne Absicht, schiebt man dieses «bald» immer weiter hinaus. Man hat doch noch so viel anderes zu tun…
Besonders schwer fällt es vielen, chronisch Kranke zu besuchen und solche, deren Krankheit nicht mehr heilbar ist. Was soll ich dort am Krankenbett? Halte ich aus, was ich dort sehen werde? Ist mein Besuch überhaupt erwünscht? Solche Fragen gehen einem dann durch den Kopf.
Rechtzeitig für die Weihnachtszeit - also bewusst einen Monat früher – möchte ich Ihnen deshalb Gedanken weitergeben, wie auch Besuche bei Pflegebedürftigen zu wertvollen Begegnungen werden können.

Es lohnt sich, den Schritt zu wagen
Eine gewisse Scheu vor Krankenbesuchen ist keine Schande. Für alle, die es erst selten machten, ist es wirklich eine ungewohnte Situation. Wie trifft man den Menschen, den man schon länger kennt, jetzt an? Hilflos und verzweifelt? Oder als jemanden, der trotz allem den Humor nicht verloren hat?

Auf einen «besseren Moment» zu warten, macht die Unsicherheit aber nur noch grösser. Nach meiner Erfahrung lohnt es sich, nicht lange zu warten, sondern bald einmal nachzufragen, ob und wann ein Besuch willkommen ist. Ausser in besonders schwierigen Phasen werden die meisten chronisch Kranken gerne besucht. Es bedeutet für sie, weiterhin ein Teil der Gesellschaft zu sein. Die Welt, in die sie nicht mehr hinausgehen können, kommt mit dem Besuch zu ihnen. Sie hören etwas von dem, was in der nahen oder fernen Umgebung läuft. Ausserdem erleben sie Wertschätzung: Man bleibt mit ihnen verbunden, auch wenn sie die einstigen Aufgaben und Ämtli nicht mehr ausführen können. Mit all dem, was jetzt eben auch zu ihrem Leben gehört, bleiben sie ein Teil vom Familien- und Freundeskreis.

Offene Ohren und Herzen
Worüber man dann reden oder was man zusammen tun soll, weiss der Betroffene selbst am besten. Manchen tut es gut, ihre Krankengeschichte erzählen zu können. Andere sind froh, das nicht schon wieder tun zu müssen, sondern über Themen zu reden, die beide schon früher interessierten. Offene Ohren und Herzen sind also das Wichtigste, was man zu einem Besuch mitbringen kann. Eine offene Haltung, bei der man spürt, dass jemand aus echtem Interesse und nicht nur aus Neugier kommt.
Wem es mehr liegt, etwas zu tun, statt nur dazusitzen und zu reden, der ist übrigens für Krankenbesuche genau so gefragt. Kleine Aufmerksamkeiten oder Handreichungen, Besorgungen machen oder etwas reparieren, jassen oder andere Spiele machen, mit oder ohne Rollstuhl spazieren gehen, vielleicht auch an einen Lieblingsort fahren, wo jemand trotz Krankheit gerne noch einmal hingehen möchte … Es gibt viele Möglichkeiten, Pflegebedürftigen auch ganz praktisch Zeit und Wertschätzung zu schenken. Und wer das schon einmal gemacht hat, kann vieles davon weiterhin tun, auch wenn der besuchte Mensch körperlich oder geistig schwächer wird.

Bereicherung auf beiden Seiten

Der Mut zum Besuchen von chronisch Kranken und Pflegebedürftigen lohnt sich also. Besuchte Menschen erhalten dadurch ein gutes Stück mehr Lebensqualität. Die Besucherinnen und Besucher selbst erleben oft überraschend frohe Stunden. Ausserdem gewinnen sie Lebenserfahrungen, um mit den Grenzen des eigenen Lebens besser umgehen zu können.

Verena Schlatter, Pfarrerin

» Besuchsdienst der Kirchgemeinde Seedorf

Mut zum Besuchen 2 (Foto: Pixabay)